Zwischen allen Stühlen

Videoprojekt mit jungen Aussiedlerinnen und Aussiedlern

Die Akteure in Aktion
   
   
   
Ein Bericht von Dirk Schhmid-Hornisch
                                                                                                                  

1. Thema und Einleitung
Zeitgleich mit meinem Dienstantritt als Pfarrer im Gruppenamt der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde Freiburg-Weingarten am 1.3.03 hatte ich die Chance, die Fortbildung „Integration und Versöhnung“ zu besuchen. Sie begleitete mich in den ersten Monaten meiner Arbeit in diesem interkulturell und interreligiös geprägten Stadtteil. Die Reflexionsphasen und Anregungen, die mir die Fortbildung ermöglichten und gaben, haben mich sehr bereichert.
Auch die Idee, ein Projekt mit einer Clique russlanddeutscher Jugendlicher in Kooperation mit der Mobilen Jugendarbeit Weingarten-Ost des Diakonievereins der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde zum Themenbereich „Identität, Heimat, Integration“ durchzuführen, erwuchs aus der Fortbildung.
Chancen und Probleme der vielen Gemeindemitglieder, die aus Gebieten des ehemaligen Ostblocks in Kirchengemeinden der Evangelischen Landeskirche in Baden heimisch werden möchten (in der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde etwa 1/3 der 3600 Mitglieder!), wurden mir im Laufe meines Vikariats bereits bewusst. V.a. in der Ortenau war und ist die „Integration und Versöhnung“ von Spätaussiedlerinnen und –aussiedlern in landeskirchlichen Gemeinden wie in der Gesellschaft überhaupt eine große Herausforderung. Aufgrund meiner Erfahrungen in der Begegnung mit Migrantinnen und Migranten aus Russland, Kasachstan oder Rumänien entschied ich mich dazu, eine Diplomarbeit im Rahmen meines Aufbaustudiums am Diakoniewissenschaftlichen Institut der theologischen Fakultät der Universität Heidelberg zum Thema „Seelsorgliche Perspektiven in der Arbeit mit Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern“ zu schreiben. So war ich mit geschichtlichen und aktuellen Problemen dieser Gruppe von Migrantinnen und Migranten näher vertraut. Dieser Umstand kam mir in der Erarbeitung des Videoprojekts sehr zugute.

2. Zielsetzung und Projektarbeit
Die Zielsetzung des Projekts in der Projektskizze vom 23.7.03 hat sich im Laufe der Projektarbeit nicht modifiziert: Durch die Auseinandersetzung mit dem Medium Videofilm sollen Jugendliche aus Freiburg-Weingarten mit ihren kulturellen Wurzeln in Gebieten der ehemaligen Sowjetunion eine wertschätzende Haltung der eigenen Prägung gegenüber gewinnen, sich über ihre spezifischen Probleme und Ressourcen klar werden und darüber mit anderen Jugendlichen und Erwachsenen im Stadtteil ins Gespräch kommen.
Dieses Ziel wurde in der Erarbeitung des Videofilms bereits ansatzweise erreicht. Geplant sind auch Veranstaltungen im Stadtteil zum Thema mit Diskussion. Dadurch soll eine breitere Basis des Gesprächs erreicht werden und die konstruktive Auseinandersetzung mit der Lebensthematik von Aussiedlerinnen und Aussiedlern angestoßen werden.
Zielsetzung und Durchführung des Projektes wurden von Anfang an in enger Kooperation mit den Mitarbeitenden der Mobilen Jugendarbeit, den beiden Dipl.-Sozialarbeitern Frau Renate Janca und Herrn Joachim Meyer, sowie der Clique „K 4“ erarbeitet. In einer kritischen Phase kam die Praktikantin Frau Ludmilla Kirs (selbst ausgesiedelte Studentin an der Ev. Fachhochschule Freiburg) ins Team, was dem Projekt einen starken Auftrieb gab.

3. Projektplanung
3.1 Projektschritte
Nachdem klar war, welche Anforderungen und Hilfestellungen von Seiten der Leitung der Fortbildung „Integration und Versöhnung“ hinsichtlich des zu erarbeitenden Projekts bestanden, kam in der Diskussion mit den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Veranstaltung die Idee bei mir auf, mit der Gruppe zu arbeiten, die in meiner neuen Gemeinde als am schwersten zu integrieren galt: Den Spätaussiedlerinnen und –aussiedlern.
Dabei waren der Gemeinde v.a. Jugendliche fern und ich wollte eine Annäherung versuchen, die diese da abholt, wo sie standen. Da ich wusste, dass die Clique russlanddeutscher Jugendlicher „K 4“ in der Mobilen Jugendarbeit zusammenkam und dort auch schon mit dem Medium Video gearbeitet wurde, nahm ich über die beiden Mitarbeitenden Kontakt zu den Jugendlichen auf.
Ein erstes Treffen verlief sehr erfreulich: Spontan waren die Jugendlichen bereit, das Videoprojekt durchzuführen. Nach einer Bedenkzeit von etwa zwei Wochen beschlossen wir endgültig: Gemeinsam erarbeiten wir den Film zum Thema „Identität, Heimat, Integration“.
Somit war der erste und entscheidende Schritt zur Erarbeitung des Videofilms getan. In den folgenden ging es darum, die Fragestellungen zu konkretisieren, unter denen wir das Thema angehen wollten, sowie Chancen und Schwierigkeiten des Umgangs mit dem Medium Videofilm in den Blick zu nehmen.
Die möglichen Elemente des Filmes wurden besprochen: Dokumentationen, Interviews, Spielszenen, Reisebilder aus der Ukraine. Als Problem wurde das Finden möglicher Interviewpartner in den Blick genommen.
Die Besprechung dieser Fragen fand i.d.R. während der regelmäßigen Treffen der Clique statt. Bis zum Sommer 2003 hatten wir eine Vorstellung davon, was wir wollten und wie wir unsere Ideen umsetzen konnten.

3.2. Methode
Es erwies sich als äußerst hilfreich, dass die Mitarbeitenden der Mobilen Jugendarbeit sowie die Jugendlichen selbst bereits Erfahrungen mit der Erarbeitung eines Videofilmes hatten. Entstanden war im vergangenen Jahr ein Videofilm zum Thema „Mädchengewalt“, der auch bei verschiedenen Anlässen gezeigt worden war. So war ich der einzige im Team, der noch nie mit dem Medium Videofilm gearbeitet hatte! Ich konnte also viel lernen.

3.3 Zeitschiene
Die Erfahrungen meiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter kamen bereits in der realistischen Einschätzung des zeitlichen Umfangs der Erarbeitung des Videofilms zum Tragen. V.a. für die Spielszene und das Schneiden am Ende musste mehr Zeit eingeplant werden als ich mir das vorgestellt hatte.
Nachdem wir uns nach der verbindlichen Abmachung, den Film zu machen, noch im Juli 2003 über Zielsetzung, Methode und mögliche Inhalte des angestrebten Videos verständigt hatten, beschlossen wir, im September 03 Schwerpunkte zu setzen, erste Umsetzungsvorschläge zu sammeln sowie erste Aufnahmen durchzuführen. Für Oktober/November nahmen wir uns dann die Erarbeitung des gesamten Rohmaterials vor und für die Monate Dezember 03 bis Februar 04 die Fertigstellung des Videofilms und die Vorbereitung seiner Präsentation beim Fachtag in der Ev. Fachhochschule Freiburg.
Im Ganzen wurde diese Zeitschiene auch eingehalten. Im Jahr 2004 musste nur noch eine einzige Sequenz gedreht werden, ansonsten machten sich die Mitarbeitenden an die zeitraubende Arbeit des Filmschneidens und Kürzens des immerhin insgesamt knapp vier Stunden betragenden Filmmaterials auf die Länge von max. 50 Minuten.

4. Beschreibung der Hintergründe und Ausgangsbedingungen
4.1 Beschreibung der Gruppe/Einrichtung
Der Videofilm wurde erarbeitet mit der Clique „K 4“, einer Gruppe russlanddeutscher Jugendlicher, die sich regelmäßig in den Räumen der Mobilen Jugendarbeit Weingarten-Ost des Diakonievereins der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde Freiburg-Weingarten treffen.
Diese Einrichtung mit den beiden fest angestellten Mitarbeitenden, Frau Dipl.-Sozialarbeiterin Renate Janca und Herr Dipl.-Sozialarbeiter Joachim Meyer, arbeitet unter dem Motto „freiwillig, anwaltschaftlich, vertraulich“. Zum einen besteht die Arbeit in Streetwork. Dabei werden Jugendliche im Stadtteil Weingarten, einem Viertel Freiburgs mit Menschen aus über 60 Nationen, die meist in Hochhäusern auf engstem Raum zusammenleben, aufgesucht. Es entstehen auf diese Weise Möglichkeiten, ohne Zwänge in Kontakt mit den verschiedenen Jugendlichen im Stadtteil zu treten und zu bleiben.
Daneben bietet die Mobile Jugendarbeit in ihren Räumlichkeiten in einem für den Stadtteil typischen Hochhaus Einzelfallhilfe an, durch die den Jugendlichen bei spezifischen Problemen geholfen werden soll.
Die Sozialarbeiter orientieren sich bei ihrer Arbeit an Cliquen. Das bedeutet, dass sie die jugendliche Szene akzeptieren und deren eigenen Lebensstil mit seinen sozialen Beziehungen fördern.
Die Stabilität einer solchen Clique konnte ich während der Erarbeitung des Videoprojektes erleben. Denn die Clique „K 4“ – benannt nach ihrem ursprünglichen Treffpunkt beim Hochhaus „Krozingerstr. 4“ – erwies sich über die Monate hin als verlässlicher Kooperationspartner.
Die Clique besteht z.Zt. aus neun Jugendlichen aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, die sich regelmäßig mittwochs treffen. Die Gruppe besteht schon längere Zeit, hat mehrere Projekte am Laufen und ist für neue Mitglieder offen. Für die Jugendlichen ist es ein großes Glück, nach der Übersiedlung in die fremde Welt hier in Deutschland im Netz einer solchen Clique „hängen zu bleiben“.

4.2 Analyse der interkulturellen Dimension
In einem Stadtteil wie Weingarten mit Menschen aus über 60 Herkunftsländern sind kulturelle Unterschiede auffallend. Ich persönlich erlebe es als bereichernd, in der Gemeindearbeit etwa im Zusammenhang von Taufen auf buddhistische Hintergründe zu stoßen, da ein Elternteil aus Thailand stammt.
V.a. bei Beerdigungen bin ich immer erstaunt über Rituale z.B. von Migrantinnen und Migranten aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, die sich auch in der neuen Umgebung halten und den Menschen Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Ich halte es im kirchlichen Kontext für unbedingt nötig, diese Elemente wahrzunehmen, wertzuschätzen und zu reflektieren. Dies geschieht aus meiner Sicht noch nicht in hinreichendem Maße etwa in der Form von interkulturellen Fortbildungsmaßnahmen, die besonders den pastoralen Bereich betreffen.
Natürlich gibt es neben den Chancen der interkulturellen und interreligiösen Zusammensetzung der etwa 12 000 Menschen im Stadtteil Weingarten auch viele daraus resultierende Probleme. Was beim Betreten des Gebiets auffällt, das sind die verdreckten Straßen, die überquillenden Mülleimer vor den Hochhäusern. Auch das ein Indiz kultureller Verschiedenheit!
Im Bereich der evangelischen Kirchengemeinde fallen v.a. die Spätaussiedlerinnen und –aussiedler aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion ins „interkulturelle Gewicht“. Viele haben nach ihrer Übersiedlung lange Zeit große Sprachprobleme, die den Menschen die Teilnahme am gesellschaftlichen, auch am kirchlichen Leben erschweren. Oftmals treffen sie sich deshalb in rein russlanddeutschen oder anderen nicht deutsch sprechenden Gemeinschaften. Dies ist zum einen sehr verständlich, stellt zum anderen jedoch ein großes Integrationsproblem dar. Denn wer die Sprache nicht oder nur schlecht kann, hat kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz. Wenn dann der Teil einer Familie, der sich schon einigermaßen integrieren konnte, etwa durch Tod oder Wegzug dem System nicht mehr zur Verfügung steht, können daraus menschliche Tragödien entstehen, wie ich sie immer wieder erlebe. Der Griff zum Alkohol ist dann leider nicht selten die einzige „Lösung“ für die oft sehr hilflosen und einsamen Menschen.
Um bereits Jugendlichen, die seit einigen Jahren in Deutschland leben, Hilfestellungen zu ihrer Integration zu geben, suchte ich eine Gruppe, mit der zusammen ich ein Projekt zur Bewusstmachung ihrer interkulturelle geprägten Identität durchführen konnte. Aus beschriebenen Gründen entschied ich mich für die Clique „K 4“.

4.3 Analyse des Entscheidungsfaktors „Macht“
Im Rahmen meines Dienstauftrags in der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde konnte das Projekt gut durchgeführt werden.
Die diakonische Verantwortung der Gemeinde in diesem Stadtteil, der durchaus als sozialer Brennpunkt Freiburgs gilt, schlägt sich im Gruppenamt der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde nieder. Ich arbeite hier mit Herrn Dipl.-Päd. Wolfgang Stahlberg, dem Geschäftsführer des Diakonievereins der Gemeinde mit insgesamt sieben Einrichtungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in teilweise auch ökumenischer Trägerschaft mit der katholischen St. Andreas-Gemeinde, zusammen. Dieser Umstand ermöglicht mir natürlich ein weites Feld interkultureller Aufgaben, die ich im Rahmen meiner religionspädagogischen Verantwortung wahrzunehmen versuche.
Die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitenden der Mobilen Jugendarbeit empfand ich als äußerst kollegial und gleichberechtigt. Sie unterstützten das Projekt und meinen Stand in der Clique enorm. Mehr noch: Es wurde zu unserem gemeinsamen Projekt.

4.4. Analyse des Entscheidungsfaktors „Ressource“
Ein Schwerpunkt der Arbeit der Mobilen Jugendarbeit liegt auf dem Einsatz von Medien. Darum war es nicht schwierig, an das technische Zubehör zu kommen, das in Kooperation zweier Einrichtungen des Diakonievereins angeschafft worden war. Dieses allerdings stellte sich im Laufe der Zeit als schadhaft heraus. Darum wurde es doch noch zum Problem, eine funktionierende Digitalkamera zu besorgen, was aber von den Mitarbeitenden der Mobilen Jugendarbeit gelöst werden konnte. Die Software zur Verarbeitung des Rohmaterials war komplett.
Das Knowhow sowohl bezüglich der Aufnahmen als auch bezüglich deren Verarbeitung war vorhanden. Bei den Jugendlichen bestanden Erfahrungen als Schauspieler durch die erste Videoproduktion mit der Mädchengruppe.
Finanziell belastete das Videoprojekt den Haushalt der Mobilen Jugendarbeit also nur durch den notwendigen Erwerb der Videobänder.

5. Dokumentation der Durchführung
5.1 Verlauf des Projektes
Durch die hervorragende Zusammenarbeit mit den Mitarbeitenden der Mobilen Jugendarbeit verlief das Videoprojekt bis auf eine Krise (s.u. „Stolpersteine“) ohne nennenswerte Probleme. Was nicht gleich funktionierte, wurde noch einmal ausprobiert. Wo etwas schief lief, wurde improvisiert.
Zu Beginn der Projektarbeit galt es aus meiner Sicht, erst einmal ein wenig „Boden“ zu gewinnen sowohl den Jugendlichen als auch den Mitarbeitenden der Mobilen Jugendarbeit gegenüber. Schließlich war ich ganz neu in der Gemeinde.
Erfreulicherweise wurde das Videoprojekt sehr schnell zu „unserem“ Projekt. Ich wurde offen aufgenommen und wir konzipierten den Film von Anfang an im Team.
Nach einer ersten Kennenlernphase, in der ich mehrere Male in den regelmäßigen Gruppenstunden der Clique „K 4“ erschien, um zu klären, ob wir das Projekt gemeinsam durchführen wollen  - und wenn ja: wie – kam die entscheidende Phase, in der die Jugendlichen für sich beschlossen: Wir wollen den Film machen.
Dies war aus meiner Sicht zunächst nicht so wichtig. In der Krise des Projekts wurde dieser Umstand der verbindlichen Absprache von Anfang an jedoch entscheidend. 
Für die Jugendlichen war der Gedanke, sich mit ihrer eigenen Identität auseinanderzusetzen, zunächst fremd. Die meisten hatten höchstens aus Erzählungen der Großeltern eine Ahnung über die Geschichte ihrer Vorfahren.
Meine Idee, einen älteren Russlanddeutschen dazu zu interviewen, fanden sie aber nicht schlecht.
So stellte ich einen Kontakt her zu einem etwa 70-jährigen Spätaussiedler, den ich aus dem Gottesdienst kannte. Der Besuch bei ihm und seiner Frau war zugleich einer meiner ersten Besuche bei einem Aussiedlerpaar in meinem neuen Wirkungskreis. So war ich überrascht von der Gastfreundschaft: Nachmittags um 15.00 Uhr wurden Hähnchen und Salat aus dem Garten, dazu Wein aufgetragen.
Wir kamen ins Gespräch über die Lebensgeschichte der Eheleute. Diese war sehr interessant und erschien mir geeignet zu sein für unseren Film.
Auch die anderen Mitarbeitenden der Mobilen Jugendarbeit stellten Kontakt her zu möglichen Interviewpartnern.
Den Jugendlichen war v.a. eines wichtig: Sie wollten eine Spielszene integrieren. Nur: Was für eine Geschichte sollte verfilmt werden? Zur Anregung sahen wir verschiedene Filme von und mit Migrantinnen und Migranten aus dem Freiburger Raum an. Das hohe Niveau dieser z.T. mit großem finanziellen Aufwand gedrehten Videos schreckte jedoch eher ab.
Es kamen keine wirklich guten Ideen auf, was dem Projekt den ersten Schwung nahm.
Hinzu kam, dass etliche der Jugendlichen plötzlich große Probleme hatten. Ein Jugendlicher musste ins Krankenhaus, anderen wurde der Weg in eine Ausbildung sehr schwer gemacht, was die Stimmung trübte.
Wir entschieden uns, die Projektarbeit ab September aus den regelmäßigen Treffen der Clique herauszunehmen. Das bedeutete zwar für die Mitarbeitenden der Mobilen Jugendarbeit einen zeitlichen Mehraufwand. Die Clique und das Vollenden des Videos war es ihnen jedoch wert.
Nach etlichen Anläufen gelang es den Jugendlichen schließlich, sich auf eine mögliche Spielszene zu verständigen. Die Umsetzung machte den meisten großen Spaß und wurde zum motivierenden Element des Projekts.
Daneben trug zum Erfolg bei, dass mit Frau Ludmilla Kirs eine Sozialarbeitsstudentin der Ev. Fachhochschule ab September 03 als Praktikantin für ein halbes Jahr das Team der Mobilen Jugendarbeit unterstützte. Da sie selbst aus Russland nach Deutschland ausgesiedelt war und mit z.T. ähnlichen Problemen zu kämpfen hatte wie die Jugendlichen, konnte sie noch einmal einen ganz eigenen Blickwinkel einbringen. Sie motivierte die Jugendlichen dazu, sich mit ihrer Identität auseinanderzusetzen. Dass sie selbst als Studentin mit Aussichten auf einen akademischen Beruf auftrat, hatte m.E. einen positiven Effekt für die Jugendlichen, sahen sie doch, dass man auch als Aussiedlerin in Deutschland Fuß fassen konnte.
Neben der Spielfilmszene, die eine von einem Jugendlichen selbst erlebte Erfahrung von Diskriminierung aufgrund der Herkunft aus Russland darstellte, wurden verschiedene Interviews geführt. Interessanterweise ließen sich die Gruppenmitglieder selbst von Frau Kirs befragen, was sie ganz zu Beginn der Projektarbeit noch nicht wollten. Außerdem wurden die Menschen im Stadtteil zu ihrer Meinung über Aussiedlerinnen und Aussiedler interviewt.
Eine der Jugendlichen war in den Sommerferien zu Besuch in ihrer alten Heimat in der Ukraine. Sie hatte die Digitalkamera mitgenommen und einige Aufnahmen von Land und Leuten für unser Projekt gemacht.
Bis Anfang Dezember waren die Szenen gedreht, die Interviews geführt. Es folgte eine Phase, in der ich aufgrund beruflicher Belastungen in der Adventszeit nur noch wenig Zeit für das Projekt aufbringen konnte. Das fand allgemeines Verständnis und so stieß ich erst im neuen Jahr wieder dazu. Das Projekt war bis dahin schon weiter fortgeschritten. Bis zur Präsentation in der Ev. Fachhochschule am 5.3.04 sollte der Film schließlich abgeschlossen sein.
Das Schneiden und Zusammenfügen der einzelnen Filmsequenzen ist eine ebenso interessante wie zeitaufwändige Arbeit, die jedoch zu einem guten Ende kommen wird.

5.2 Ergebnisse
Unser Videofilm zum Thema „Zwischen den Stühlen – ein Film über Identität und Integration von jugendlichen Aussiedlerinnen und Aussiedlern in Freiburg-Weingarten“ ist eine Mischung aus Spielfilm, Dokumentation und Interview.
Eingebaut in verschiedene Szenen sind immer wieder Aufnahmen, die eine Jugendliche bei ihrer Reise durch die Ukraine machte.
Der Film beginnt mit einer historischen Betrachtung über den Zug deutscher Familien nach Russland, die das ungenutzte Land urbar machen sollten.
Im Interview beschreibt ein älterer Aussiedler das Leben seiner Familie vor und nach den beiden Weltkriegen. Sein persönlicher Werdegang als „Feldscher“ (eine Art Arzt), sein Schicksal nach dem zweiten Weltkrieg als Arbeiter in der russischen Arbeitsarmee, seine Erschöpfung bis zum Tode, sein Wiederaufleben und schließlich die Aussiedlung zusammen mit Frau und Kindern nach Deutschland.
Daneben steht ein Gespräch zwischen der Praktikantin Ludmilla Kirs und mir über ihre Erfahrungen nach der Umsiedlung aus Kasachstan. Dabei werden die kulturellen Unterschiede sehr deutlich, die sich an einem entscheidenden Punkt festmachen lassen: Der Sprachkompetenz. In diesem Interview wird klar: Mit dem Erlernen der deutschen Sprache steht und fällt jeder Integrationsprozess. Wer sich nicht sicher ist in der Sprache des Landes, in dem er lebt, wird sich nicht zu Hause fühlen können. Außerdem wird auch deutlich, dass Integration nicht nur Aufgabe der ausgesiedelten Menschen ist, sondern ebenso der hier geborenen. Zum Abbau von Vorurteilen können Kirche und Gesellschaft beitragen.
In der Spielfilmszene, die wir in den Räumen der Adolf-Reichwein-Grundschule mitten in Weingarten drehen konnten, geht es um eine Schlägerei zwischen einem deutschen und einem russlanddeutschen Jugendlichen auf dem Pausenhof.
Die Szene ist nach einem Erfahrungsbericht eines Cliquenmitglieds nachgestellt.
Ein Lehrer kommt dazu und trennt die beiden. Er verlangt von dem russlanddeutschen Jugendlichen, dass er den Hergang der Schlägerei niederschreibt.
Im Klassenzimmer muss dieser Jugendliche vor der ganzen Klasse seinen Bericht – in gebrochenem Deutsch – vorlesen. Leider nimmt ihn niemand in der Klasse ernst. Im Gegenteil: Er wird mit seinem „Spitznamen“ „Wodka“ verlacht. 
Der Lehrer gibt dem Jugendlichen keine Chance, sich wirklich zu verteidigen. Dafür wird der Jugendliche ins Rektorat gerufen, wo ihm der Schulleiter den Schulverweis übergibt. Dieser ist nicht etwa mit der Schlägerei begründet, sondern mit Rauchen auf dem Schulgelände. Auf diese Weise entledigt man sich in der Schule des Problems, ohne auf die Ursachen zu achten, die in der Diskriminierung des Jugendlichen zu finden sind.
Die folgenden Sequenz des Filmes zeigt die Interviews, die die Praktikantin Ludmilla Kirs mit den Jugendlichen der Clique führte. Aus meiner Sicht ist dies ein zentrales Stück des Films: Hier wird deutlich, dass sich einige der Jugendlichen im Alter zwischen 17 und 21 Jahren auch nach mehrjährigem Aufenthalt in Deutschland noch immer eher als „Russen“ fühlen denn als „Deutsche“. Ihre Identität ist geprägt von einem Leben „zwischen den Stühlen“, zwischen den Kulturen des Herkunftslandes und den deutschen Kulturen.
Ein Jugendlicher sagt im Film: „Ich fühle mich in Deutschland wie daheim. Zugleich ist meine Heimat in Russland, weil ich dort meine Kindheit verbracht habe. Ich fühle mich als Russland-Deutscher!“
Dabei können die Jugendlichen dem Leben in Deutschland durchaus Positives abgewinnen, auch dann, wenn ihre Berufsaussichten nicht gut aussehen. Das Problem Sprachkompetenz wird auch in diesen Gesprächen sehr deutlich. Meist wurde innerhalb der Familien die Ausreise damit begründet, für die Kinder bessere Zukunftschancen zu wünschen, die hier gegeben seien.
Eine Jugendliche spricht sich dagegen aus, dass ihre russlanddeutschen Klassenkameraden im Unterricht russisch sprechen. Das nähre nur das Vorurteil der in Deutschland geborenen Jugendlichen, die Aussiedler wollten sich nicht integrieren.
Sehr aufschlussreich sind auch die Interviews, die die Jugendlichen im Stadtteil mit Passanten führten. Die Frage „Was halten Sie von Russlanddeutschen?“ wurde auf vielfältige Art und Weise beantwortet. Von „Nichts“ bis zu sehr differenzierten Äußerungen ist alles an Antworten vorhanden. Die in Weingarten häufig anzutreffenden Migranten beantworteten die Frage meist damit, sie seien ja selbst Migranten und hätten schon allein deshalb nichts gegen Aussiedlerinnen und Aussiedler. Immer wieder war der Tenor: Wenn sich die Menschen integrieren, sind sie herzlich willkommen.
Den Schluss des Videos bildet ein Statement der beiden hauptamtlichen Mitarbeitenden der Mobilen Jugendarbeit, die von der positiven Entwicklung in der Arbeit mit russlanddeutschen Jugendlichen in den vergangenen Jahren berichten.
Die Musik zum Film wird von einem der Jugendlichen der Clique „K 4“ selbst geschrieben und gespielt.

5.3 Stolpersteine
Im Herbst vergangenen Jahres kamen wir in der Projektarbeit in eine schwierige Situation, die allerdings von niemandem so dramatisch eingeschätzt wurde wie von mir! Ich hatte den Eindruck, dass die Jugendlichen so große persönliche Probleme hatten, die es in der Clique zu diskutieren galt, dass ich mit dem Videoprojekt eher störte. Und das wollte ich schließlich auch nicht.
So entschied ich mich dazu, ein zweites Projekt mit Spätaussiedlerinnen und –aussiedlern ins Leben zu rufen. Ich bot einen Kurs „Religionsunterricht für Erwachsene an“, nachdem ich von mehreren Spätaussiedlern im mittleren Lebensalter gebeten wurde, sie zu taufen. Interessanterweise waren für die Migrantinnen und Migranten aus der Perspektive der Neuzugezogenen die Kirche und ihre Angebote ein elementarer Bestandteil der Kultur, an der sie gerne partizipieren wollten. Da ich die Gemeindearbeit gerne für die Gruppe der Aussiedlerinnen und Aussiedler öffnen möchte, kam ich dem Wunsch nach Taufvorbereitung und anschließender Taufe natürlich gerne nach. Im November konnten wir dann sieben Erwachsene im Gemeindegottesdienst taufen.
Dieses zweite Projekt war noch nicht abgeschlossen, als ich die Mitarbeitenden der Mobilen Jugendarbeit um ein Krisengespräch bat. Dabei äußerte ich meine Sorge, selbst zum „Stolperstein“ für die Jugendlichen zu werden. Die Mitarbeitenden bestätigten zwar, dass in der Clique einzelne Mitglieder große persönliche Probleme hatten, dies jedoch nie den Abschluss der Projektarbeit gefährdet hätte. Begründung: Anders als andere Jugendliche (deutsche und Migranten aus anderen Ländern), mit denen sie arbeiten, seien Aussiedlerinnen und Aussiedler sehr zuverlässig. Wenn sie zugesagt haben, den Videofilm zu drehen, dann halten sie Wort. Auch eine kulturelle Eigenart, die ich in diesem Zusammenhang kennen lernte.
So konnten wir den Film weiterführen und dank des Durchhaltevermögens der Jugendlichen zu einem guten Ende bringen.

6. Interkultureller Ausblick
Die Auseinandersetzung mit der Situation der Migrantinnen und Migranten aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion wird mich weiterhin beschäftigen.
Ich möchte etwa im Konfirmandenunterricht das Gespräch darauf bringen. Wenn möglich sollen sich so Beziehungen ergeben zwischen Jugendlichen, die in Deutschland geboren sind, und anderen, die erst später ins Land kamen.
Durch die nebenamtliche Übernahme der Bezirksjugendpfarrerstelle Freiburg-Stadt ergeben sich vielleicht Möglichkeiten, einmal eine interkulturelle Jugendfreizeit dahin zu unternehmen, woher die Jugendlichen ausgesiedelt sind.
Auch in anderen Bereichen der Gemeindearbeit ist mir wichtig, den Aussiedlerinnen und Aussiedlern Heimat anzubieten – durch die Vergabe von Räumen, durch Angebote in russischer und deutscher Sprache, durch Themengottesdienste und thematische Abende, die von Geschichte und Gegenwart der Menschen aus dem ehemaligen Ostblock handeln.
Eine Gesprächsgruppe zwischen Aussiedlerinnen und Aussiedlern und hier geborenen Deutschen soll in der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde ins Leben gerufen werden. Ziel ist nicht nur die Übernahme unserer kulturellen Eigenarten durch die „Neubürger“, sondern auch umgekehrt das Kennenlernen und Wertschätzen dessen, was den Menschen in Russland oder Kasachstan wichtig war. V.a. im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen scheint mir da einiges an Potenzial zu liegen, das wir in unserer Gesellschaft seit langem verloren haben.

Dirk Schmid-Hornisch, Pfr.
Bugginger Str. 44
79114 Freiburg
Tel.: 0761/4794213